Finn Mayer-Kuckuk

sonicboom Space: Finn Mayer-Kuckuk im Interview

von Christian Domke-Seidel

Chinas vorbildlicher Verbraucherschutz: Digitalisierung in der Volksrepublik

China hat in allen Branchen und Sektoren aufgeholt. Das Land möchte sich zur führenden Weltmacht aufschwingen. Die Digitalisierung ist dabei ein zentraler Baustein. Finn Mayer-Kuckuk erklärt im Interview mit sonicboom, ob und wie das gelingen kann.

China ist in vielen Bereichen der Digitalisierung bereits führend. Im Bereich der Künstlichen Intelligenz und dem autonomen Fahren etwa. Das liegt erstens daran, dass die Technologie von der Regierung gefördert wird. Und zweitens sind die Chinesen ein sehr digitalaffines Volk, dass offen ist für Innovationen. Das können sie auch sein, denn die Kommunistische Partei hat einen beinahe vorbildlichen Datenschutz eingeführt. Der auf sie allerdings nicht angewendet wird. 

Über diesen Spagat bei der Digitalisierung in China spricht Finn Mayer-Kuckuk im Interview mit sonicboom. Mayer-Kuckuk ist Chefredakteur bei Table Media. Der Verlag bietet ein tägliches professional Briefing mit verschiedenen Schwerpunkten an. Darunter neben Europa, Bildung und Sicherheit auch das Ressort China, das Mayer-Kuckuk leitet. Die Beiträge richten sich vor allem an Entscheidungsträger und politische Multiplikatoren und haben eine enorme Tiefenschärfe.

sonicboom: Gretchenfrage zu Beginn: Wie wichtig ist die Digitalisierung in China?

Finn Mayer-Kuckuk: Die Digitalisierung ist für China die Basis des derzeitigen Erfolgs. Was China von anderen Großmächten oder Schwellenländern unterscheidet, ist die Innovationskraft. Das Land hat zwar auch in anderen Bereichen aufgeholt, aber bei Digitalisierung hat es sich in vielen Bereichen an die Spitze gesetzt. Das hat auch deswegen funktioniert, weil die Bevölkerung sehr digitalaffin ist.

Dass totalitäre Regierungen den Fortschritt so unterstützen, ist nicht selbstverständlich. Weiß die Kommunistische Partei die Digitalisierung zu nutzen? 

Schon seit der Zeit des großen Reformers Deng Xiaoping weiß die Kommunistische Partei, dass Wirtschaft und Wirtschaftswachstum die Basis für ihren Erfolg sin. Damit hält man die Bevölkerung bei der Stange und es ist die beste Rückversicherung für die eigene Macht. Damals war es halt die Autoindustrie und die Fertigung kleiner Plastikwaren. Heute ist es die Digitalisierung. Die Führung lässt die Privatwirtschaft lange laufen und macht hier immer auch erhebliche Kompromisse. 

Ist die Digitalisierung denn keine Gefahr für die Machthaber?

In den 2010er Jahren hieß es, wenn China das Internet stark nutzten würde, käme es zu einer starken freiheitlichen Kraft, der die Kommunistische Partei nichts entgegenzusetzen habe. Aber sie war mutig genug, in dieser Zeit große Internetfirmen entstehen zu lassen. Und es haben verblüffende Innovationen stattgefunden – erst einmal durch Abschauen bei den westlichen Spielern, und dann durch Weiterentwicklung. Die jetzige Führung mit Xi Jinping versucht die inzwischen entstandenen, wahnsinnig reichen, wahnsinnig mächtigen Internetfirmen wieder einzufangen und deren Macht zu beschneiden. Sie ist sich aber gleichzeitig bewusst, wie wichtig sie sind. 

Die Digitalisierung ist natürlich auch ein Geschenk an die Kommunistische Partei. Sie erleichtert die Überwachung von 1,4 Milliarden Menschen.

Und die Chinesen haben tatsächlich ihre Privatsphäre der Obrigkeit auf dem silbernen Tablett präsentiert. Ich glaube, es gibt kein Volk, das so viel teilt und im digitalen Bereich stattfinden lässt, wie derzeit die Chinesen. Das ist ein weiterer Grund, weswegen die kommunistische Partei die Digitalisierung weiterlaufen lässt. Denn die Bevölkerung gibt so ihre Daten preis. Sie sind begeisterte Nutzer der ‚Alles-App‘ – WeChat. Dort kann man von Chatten über Bezahlen bis Urlaub bei Chef beantragen alles machen. 

Aber damit liegen die Daten beim Entwickler. Nicht beim Staat. 

Die Daten, die bei WeChat zentralisiert gebündelt sind, stehen natürlich auch dem Staat zur Verfügung. Das ist so eine Art Vertrag zwischen den großen Internetfirmen und der Regierung. Abgesehen davon sind die gesetzlich verpflichtet im Namen der nationalen Sicherheit diese Daten zur Verfügung zu stellen. 

In China ist die kritische Infrastruktur in der Hand von Staatsbetrieben. Warum ist das mit dem Internet anders? 

Das Entstehen der Internetwirtschaft war mehr eine Art glücklicher Unfall. Die gibt es in der chaotischen, chinesischen Innovationsentwicklung ständig. Es ist ja nicht so, dass die chinesische Innovation von staatlichen Kommissionen ausgedacht wird. Das kommt vom Volk, nicht aus der Partei. Die hat nur die Rahmenbedingungen gesetzt. Die Entrepreneure sind die Innovationstreiber. Leute wie Jack Ma, der Alibaba gegründet hat. 

Du hast die Innovationskraft angesprochen. Was kommt in naher Zukunft auf uns zu?

Es gibt ein paar Technikbereiche, da verschiebt China selber gerade die Front des Wissens und der Innovation. Das erste ist sicherlich das selbstfahrende Auto. Die chinesischen Modelle sind schon viel weiter. Sie können durch den Stadtverkehr einer Metropole mit einem wahnsinnigen Verkehrsgewimmel steuern. Da schieben Leute Karren vor sich her, dazwischen gibt es Kinderwägen und Radfahrer, viele gehen und fahren bei Rot über die Ampel. Trotzdem funktioniert das System. Die Konkurrenz aus den USA oder Europa ist noch lange nicht soweit.

Wie kann das sein?

Hintergrund ist, dass chinesischen Hersteller die neuronalen Netze in den Maschinen besser trainieren können, da sie auf allen Ebenen viel mehr Daten gesammelt haben. Außerdem ist in China der Mut größer. Es werde sehr viel mehr Risiken genommen. Auch wirtschaftliche. 

Und neben dem Automobilbau?

Die Weltraumtechnik ist ein weiterer Bereich in dem China massiv aufgeholt hat. China will in der nahen Zukunft eine Frau, eine sogenannte Taikonautin, auf dem Mond landen lassen. Dann gibt es noch Quantencomputing. China möchte da zu den Ländern gehören, die das selber federführend zur Anwendung bringen wollen. Im Bereich der Energiewende hat China Projekte in der Fusionsforschung laufen, die sehr weit entwickelt sind. Die Liste könnte man fast endlos fortsetzen. 

Ist das Metaverse in China eine Zukunftstechnologie?

Oh ja. Gerade weil die Chinesen so digitalaffin sind und einen so großen Teil ihres Lebens bereits jetzt im Netz verbringen. Tencent ist ein Unternehmen, das mit Handyspielen groß geworden ist, das aber inzwischen eine große Bandbreite an Apps und Internetanwendungen herausbringt. Auch WeChat gehört dazu. Tencent virtualisiert gerade China, so wie das Meta in den USA macht. Sie haben natürlich den großen Vorteil, dass die Volksrepublik allein ein derart großer Markt ist und Facebook hier keine Rolle spielt. Die chinesischen Kunden sind verspielter und mehr bereit, sich drauf einzulassen. Deswegen wäre meine Vorhersage, dass es mit Tencent und dem Metaverse in China gut klappt. 

Gibt es denn etwas, was sich der Westen und Europa von China abschauen sollten, was sie lernen könnten? Und gibt es auch andersrum etwas, was China vielleicht lernen könnte?

Das chinesische Innovationssystems funktioniert nur als Gesamtpaket. Das lässt sich so nicht auf Europa übertragen. Ein wichtiges Elemente ist der Staat mit seinen Innovationsplänen, der die Leute aber selbstständig machen lässt. Dazu kommt die entscheidende Zutat, der riesige Privatsektor mit tausenden verrückten Firmen. Wir sehen ja nur die, das Promille an Firmen, das im Wettbewerb überlebt. Man braucht aber einen großen Pool aus Versuchen, damit der eine Treffer dabei ist. Dazu kommen die interessierten chinesischen Kunden, die jeden Mist mitmachen. Wenn man in China ein Prozent Marktanteil hat, ist man nach europäischen Maßstäben trotzdem groß und verdient unheimlich viel Geld. Diese Gesamtmischung kann man nicht übernehmen. 

Was könnte denn China von Europa lernen? 

Europa ist den Bereichen, in denen es schon immer innovativ war, nicht schlecht. Die Mittelständler, die sehr gute Forschung und Entwicklung machen. Oder bei der Grundlagenforschung. Wir können es uns eben nicht leisten, so wie China auf eine Erfindung im Ausland zu warten und sie dann besser zu machen. Nicht zu vernachlässigen ist auch, dass China – bei aller Innovation – immer noch vom Latecomer-Effect profitiert. Das bedeutet, dass man Innovationen viel günstiger einführen kann, wenn man jemand anderen nachahmt. 

Die App TikTok hat sich in Europa bereits durchgesetzt. Seit sie hier ist, wird darüber diskutiert. Vom Datenschutz über die Rechte von Minderheiten bis zu den Auswirkungen auf Jugendliche. Wie ordnest du die App ein?

Mein praktischer Rat an Eltern ist, dass die offizielle Altersgrenze von 13 Jahren eingehalten werden sollte. Es gibt zu viele Zehn- und Elf-Jährige auf TikTok, die dort schon wahnsinnige Datenspuren hinterlassen. Nicht, dass es mit 13 Jahren besser ist, aber es ist zumindest ein robusteres Alter. Denn auch bei TikTok geht es um soziale Interaktion. Likes, Dislikes und Kommentare können dann schon besser eingeordnet werden. TikTok ist jedoch im Grunde eine wahnsinnig kreative Angelegenheit. Junge Leute geben sich sehr viel Mühe, um Videos mit witzigen Sketchen und Spezialeffekten hinzukriegen.

TikTok ist im Prinzip nichts Schlechtes. Man sollte bloß nicht vergessen, dass sämtliche Daten, Informationen, Bilder und Videos, die man auf TikTok hochlädt, dem Unternehmen dahinter gehören. Also der chinesischen Firma ByteDance mit Sitz in Peking, auch wenn diese versichert, die Daten westlicher Nutzer in Europa und den USA zu speichern. Nun hat TikTok, auf vielfachen Wunsch, die Funktion entwickelt, dass sich User anzeigen lassen können, welche Daten über sie gespeichert werden. Das sind lange Listen von Sachen, die man selber angeklickt und geliket hat. Daraus lässt sich möglicherweise irgendein esoterisches Psychoprofil anlegen. Es ist jetzt aber nichts, wo es mir kalt den Rücken runterläuft. 

Das alles habe ich bei Apps westlicher Anbieter wie Instagram aber auch.

Ja. Auch jedes dumme Bild auf Facebook gehört Facebook. Das wissen viel zu wenig Leute. Wichtig ist, dass junge Menschen mehr Wissen über die Apps vermittelt wird. Durch die Eltern oder die Schule. Auch über Cybermobbing und andere unschöne Nebenwirkungen von TikTok oder Instagram. Diese Apps sind gekommen, um zu bleiben. 

Warum haben wir dann mit TikTok ein Problem, mit Facebook oder Instagram aber nicht?

Wir fühlen uns mit dem demokratisch rechtsstaatlichen Amerika als Partner wohler. Obwohl die amerikanischen Internetkonzerne natürlich DIE Datensammelkraken schlechthin sind.

Wie sehen denn chinesische Kunden die Thematik?

Die allermeisten Chinesen machen sich gar keine Gedanken darüber. Weil es auch kein Thema ist, das den Weg in die Öffentlichkeit findet. Die Medien sind ja staatlich gelenkt und im Eigeninteresse stößt die Kommunistische Partei darüber keine Riesendebatte an. Es ist aber etwas sehr Bemerkenswertes passiert. China hat ein Datenschutzgesetz erlassen, das es in sich hat. Es schlägt nämlich von den Rechten der Verbraucher her die europäischen Standards. Die chinesischen Anbieter müssen ihren Kunden offenlegen, was sie über sie gesammelt haben. Und die haben dann das Recht auf Löschung. Der chinesische Staat setzt diese Verbraucherrechte zudem knackig durch.

Jeder, der mal versucht hat, Facebook dazu zu zwingen, die eigenen Daten wirklich zu löschen, weiß, dass das bei den Amerikanern und Europäern schwierig ist. Der große Unterschied zum Westen ist also nicht mehr das Verhältnis des Bürgers zu den Firmen, sondern das zum Staat. Denn für den gelten diese schönen Verbrauchergesetze nicht. In China steht der Staat außerhalb des Gesetzes. Das ist dort eine Selbstverständlichkeit. Dass es keine Gewaltenteilung gibt, wird nicht diskutiert. Dafür haben sie für den rein privatwirtschaftlichen Bereich einen Verbraucherschutz eingeführt, der fast schon vorbildlich ist. 

Du benutzt viele chinesische Plattformen beruflich. Kannst du welche empfehlen, mit denen Interessierte mal einen Eindruck von der Digitalisierung in China kriegen können? 

Ich bin ein wahnsinniger Fan der E-Commerce Plattform Taobao. Leider wohne ich nicht mehr in China und eine lokale Handynummer ist in vielen Fällen der Schlüssel zu den Anwendungen. Auf Taobao ist der Austausch mit den Händlern faszinierend. Die Kunden können immer direkt mit dem Händler chatten. Bei Amazon gibt es ja immer nur ein paar Fragen, die unter dem Produkt beantwortet werden. Was man hier problemlos installieren kann, ist WeChat. Das Problem ist, die wird im westlichen Appstore stark gedrosselt angeboten, weil das ganze Ökosystem dahinter nicht verfügbar ist. Mit Dianping kann man nicht nur Restaurantbewertungen sehen, sondern auch gleich Reservierungen machen. Ein großer Fan bin ich auch von der Marke Xiaomi, weil die Geräte untereinander so gnadenlos vernetzt sind und miteinander kommunizieren. Das smarte Türschloss weiß, wann man die Wohnung verlassen hat, und der Staubsauger-Roboter fährt dann automatisch los. 

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