Es gibt eine große Lüge des digitalen Zeitalters: das Internet sei überall dasselbe. Es klingt so logisch, fast wie ein universelles Menschenrecht. Doch meine Reise zur US-Wahl – von Wien nach Washington D.C. und New York City – hat genau diese Illusion erschüttert. Sie war mehr als eine politische Erfahrung. Sie war ein Live-Experiment in digitaler Wahrnehmung und – in gewisser Art und Weise -Manipulation.
Mein Startpunkt: Wien. Im scheinbar neutralen TikTok-Algorithmus erscheinen mir unaufhörlich dieselben Straßenumfragen: „Trump oder Kamala?“ Die Antworten? In 95 Prozent der Fälle ein entschiedenes „Trump!“. Es entsteht ein klares Bild: Die USA werden sich erneut für Trump entscheiden. Punkt. Kein Zweifel. Dieses Narrativ prägt nicht nur meine Wahrnehmung, es zementiert meine Überzeugung. Ich reise also nach Amerika, um ein Wahlereignis zu erleben, dessen Ausgang ich innerlich längst beschlossen habe, auch wenn dieses nicht unbedigt meine persönliche Präferenz widerspiegelt.
Doch schon bei meiner Ankunft in Washington D.C. gerät diese gefühlte Gewissheit ins Wanken. Dieselbe App, dieselbe Frage – doch die Antworten könnten unterschiedlicher nicht sein. Plötzlich strahlt mir auf meiner For-You-Page eine Flut an Pro-Harris-Inhalten entgegen. TikTok zeigt mir Kampagnenclips, Unterstützer und positive Kommentare über Kamala Harris. Aber nicht nur das: Sogar die Suchfunktion spiegelt einen deutlichen Bias wider. Während bei Harris professionelle Vorschläge dominieren, erscheinen bei Trump oft spöttische oder ironische Inhalte.
Und vor Ort zeigt sich die Komplexität noch deutlicher. Das mediale Bild, das wir in Europa haben, ist schlichtweg verzerrt. Viele Menschen hier wählen nicht aus Überzeugung für eine Person, sondern aus Abneigung gegen die andere. Harris wird oft nicht geliebt, sondern als das „kleinere Übel“ wahrgenommen – als die Kandidatin, die Trump verhindern kann. Umgekehrt ist auch die Trump-Basis viel differenzierter, als es auf den ersten Blick scheint. Viele Wähler trennen klar zwischen der Person Trump und seinem Programm. Manche finden das Programm der Demokraten interessanter, bleiben aber ihrer Partei aus Prinzip treu. Es ist ein Tanz zwischen Ideologie, Loyalität und der Unfähigkeit, das „andere Lager“ zu akzeptieren.
Dann kommt der ultimative Test meiner „Internet-ist-überall-gleich“-Illusion. Ich wollte an einer Mystery-Clicking-Erhebung weiterarbeiten, als ich merke, dass einige TikTok-Inhalte, die in Wien problemlos zugänglich waren, in den USA plötzlich nicht mehr zugänglich sind. Stattdessen erhalte ich Fehlermeldungen. Das Internet ist also nicht nur geographisch beeinflusst, es ist fragmentiert. Die Grenzen der Staaten sind längst digitale Grenzen, und Algorithmen werden zu Gatekeepern unserer politischen Wahrnehmung.